Novemberrose

Ein letztes Mal vor der grossen Stille
Vor der Ruhe, vor dem langen Schlaf
Zeigt sich der Wald im farbigen Kleid
Opulent, leuchtend in seiner ganzen Pracht
Kalt zerrt der Wind am letzten Laub
Rot, Ocker, Orange, Kupfer und Gold
Novemberblass das Blau des Himmels
Ein Schmetterling schlägt sacht die Flügel
Er landet müde auf der zarten Rosenblüte
Erschlaffte Flügel, welke Rosenblätter
Sonnenstrahlen, die nicht länger wärmen
Zeit zu ruhen, zu sterben, zu vergehen
November 18
Storch - Kranich - Schwalbe ...
Ihr kennt den Weg, ihr kennt die Zeit
Einem schwarzen Seidenband gleich
Hoch oben am herbstblauen Himmel
Schweben, tanzen, flattern sie
Wogenden Wellen oder Wolken gleich.
Sie berühren den Himmel, berühren mein Herz
In mir ist bittersüsse Wehmut und Fernweh
Geht nicht fort, möchte ich rufen
Beobachte bange, wie sie ihre Kreise ziehn.
Plötzlich wird das Seidenband zum Pfeil
Schiesst rasend schnell zur Erde nieder
Zersplittert, zerfällt, zerstiebt in tausend Stücke
Flatternde Schwingen und lautes Zwitschern.
Auf goldgelben Bäumen nehmen sie Platz
Singen vielstimmig jubilierend ihr Abschiedskonzert
Bevor Vogel um Vogel hoch in die Luft stiebt
Sich vereint mit dem nachtschwarzen Schwarm.
Zuckend, pulsierend, wie ein einziger Leib
Ziehen sie dichtem Nebel gleich Richtung Süden
Es gibt weder Zögern noch Zweifel noch Fragen
Sie kennen den Weg, sie kennen die Zeit.
Ich folge ihnen mit den Augen, rufe in die Weite des Himmels:
Kommt zurück. Im neuen Jahr, wenn's Frühling wird.
Oktober 19

Der Atem der Meere

Wellen schwappen
Streichelnd über deine Füsse
Sonnenstrahlen kitzeln
Wärmend deine Wangen
Windböen zerren
Säuselnd an deinem Haar
Am Rand der Welt
Trifft Himmel auf Erde
Verlieren sich Grenzen
Schmilzt zusammen, wird vereint
Luft und Wasser
Feuer und Erde
Welle um Welle
Der Atem der Meere
Herzschlag um Herzschlag
Der Puls deines Blutes
Du atmest, du fühlst, du bist
Lebensfülle und Glückseligkeit
September 19
Gletscher - Wann, so frage ich mich....

Wann, so frage ich mich
Hast du den Ersten von uns gesehen.
Du kanntest Tag und Nacht
Wind, Mond und Sterne.
Erstarrt, verankert warst du
Als gäbe es dich in alle Ewigkeit.
Bis irgendwann am untersten Rand deiner Zunge
Gras spross und über dir ein Vogel sang,
Die Sommersonne dich zum Weinen brachte
Und ohne dass du darum wusstest, dein Untergang begann.
Der erste Mensch störte schamlos deine Einsamkeit
Durchschritt dich, mass dich, als wäre er ein König.
Und die Sonne brannte auf dich, unerbittlich
Brachte dich ins Rutschen, liess dich bersten.
Zurückgezogen hast du dich nach und nach
Bis hoch hinauf, näher zum Himmel, zu den Sternen.
Doch dein Eis bricht, ist grau und dünn geworden
Was wird mit uns, wenn du nicht mehr bist?
Wenn dein letztes Eis zu Wasser schmilzt
Wird’s längst zu spät sein. Für uns alle.
Juni 19
Auf der Suche nach dem Sinn ....
Ich suche nach meines Lebens Sinn
Steht er geschrieben seit Anbeginn?
Hab ich Aufgaben, gar Prüfungen zu bestehn
Gibt es nur den einen, richtigen, Weg zu gehn?
Muss ich erfolgreich sein, überall und in allem
Darf ich unterwegs zaudern, stolpern, fallen?
Gehört zum Menschsein auch die Leichtigkeit
Und wie und wer bemisst gut gelebte Zeit?
Wer ist es, der am allerletzten meiner irdischen Tage
Gutes, Schlechtes, Vollbrachtes wägt mit der Waage?
Bin ich es, ist es Gott oder eine unbekannte Macht
Die mich verdammt oder beschert mit paradiesischer Pracht?
Wahr ist, einzig im Hier und im Jetzt können wir Sein
Im endlosen Universum sind wir verschwindend klein
Und doch hat alles und jeder seinen Platz
Egal, ob Mensch, Schilfhalm oder Spatz.
Wir vermögen weder Sinn noch Zweck erfassen
Können es bloss annehmen, uns fallenlassen.
Ins Abenteuer Leben. Atmen, denken, fühlen
Achten, lieben. Und ganz am Ende - leise verglühen.
Juni 19

Klatschmohn

Klatschmohn leuchtet inmitten grüner Wiesen
Aufrecht und stark die behaarten Stängel
Fein gefältelte Blütenblätter, filigran und zart
In scharlachrote Blätter gebettet das schwarze Herz.
Rot wie die Abendsonne,
Wie Evas sinnliche Lippen
Rot, wie die Kirsche im Sommer,
Wie Santa Claus winterlicher Rock.
Du bist der anmutige Frühsommerbote
Tanzt im Wind, wiegst dich im roten Kleid
Beinahe liess ich mich täuschen von dir,
Meinte, der Sommer verginge nie.
Doch deine roten Blütenblätter welkten
Nur die Hülse blieb, mit honiggelber Krone
Die eine pflückte ich, trug sie nach Hause,
Bettete sie auf klatschmohnroten Samt.
Sie mahnt mich, dass alles kommt und geht
Sommer und Winter, Freude und Schmerz
Geburt und Tod, das Rad des Seins.
Im nächsten Jahr wirst du wieder blühn.
Mai 19
Lebe!
Tränen rinnen über Altfrauenhaut
Herzenstief, der Schmerz ist laut
gehört das Lachen nur der Jugend?
Altersleid ist keine Tugend!
Geniess das Leben in vollen Zügen
straf Sorgen und Altern Lügen
spüre deine Kraft, dein Glück, fliege
lebe stolz, dankbar und in Demut – siege!
Mai 19
Bergfrühling

Der Schnee schmilzt auf den Gipfeln
Tropft talwärts, speist Bäche und Seen
Sonnenstrahlen berühren winterblasse Erde
Und neues Leben streckt sich hin zum Licht.
Krokusse, Würmer, Gräser und Käfer
Duften, wachsen, wuseln und sirren
Aus ferner Höhe ruft der Bussard
Der Wind streicht milde übers Land.
Laut pfeift die Mungge vor der Höhle
Die Gämse rupft grünes frisches Gras
Am Boden und in der Luft pulsierendes Leben
Kurz nur – vor dem nächsten Winterschlaf.
April 19
Mohamed hatte einen Traum
Mohamed ist nie zur Schule gegangen, der Weg war zu weit, die Familie zu arm. Er half seinem Vater bei der Arbeit, spannte den Esel vor die Karre und ging mit dem Vater Erde holen. Vier Stunden Weg insgesamt, ebenso weit war es, wenn sie die dürren Grasbüschel und verdorrten Sträucher für den Ofen sammelten. Mohamed lernte, die Erde mit dem Holzstock zu Krümeln zu schlagen, sie durchs Sieb zu streichen und mit Wasser zu einem geschmeidigen Teig zu kneten. Er lernte, die Drehscheibe mit dem Fuss sanft zu drehen und den Ton zu formen. Er trug Töpfe, Teller und Schalen zum Trocknen in den Hof, schichtete sie im Ofen auf und entfachte das Feuer, das drei Stunden brennen muss, bis der Ton hart und trocken ist.
Heute sitzt der Vater müde im Hof auf dem Boden, schaut seinem Sohn bei der Arbeit zu. Mohamed ist Mitte dreissig, ein kräftiger Mann mit strahlenden Augen. Er schlägt die Erde, formt Schale und Töpfe und sein kleiner Sohn schaut im aufmerksam zu.
Mohameds 'Atelier' ist eine Lehmhütte, die Arbeit verrichtet er am Boden sitzend. Seine Eltern und seine Frau hocken plaudernd im Schatten des Hofs, die Kinder spielen, der Esel steht in der Sonne, sein Ohren zucken.
Mohamed experimentiert mit neuen Formen und Mustern, er versucht ein etwas anders geschwungener Griff, er zieht den Rand der Schüssel höher oder streicht ihn weiter aus.
Schaut ein Reisender neugierig in den Hof, so bittet Mohamed ihn hinein, zeigt ihm sein Handwerk und lädt ihn zum Tee ein.
Mohamed ist stolz auf seine Arbeit, er verrichtet sie mit Freude und Hingabe. Als Kind hatte er davon geträumt, Mechaniker zu werden. Aber er hatte früh erkannt, dass dieser Traum nie in Erfüllung gehen würde und so hatte er ihn losgelassen, ohne Bedauern, ohne Groll und ist – wie sein Vater und sein Grossvater – Töpfer geworden. Er ernährt Frau, Eltern, Kinder, seine Arbeit erfüllt ihn, macht ihn glücklich.
Auf den ersten Blick sah ich eine erbärmliche Lehmhütte, ein Leben in Armut und voller Entbehrungen.
Aber als ich mich von Mohamed und seiner Familie verabschiedete, dachte ich, dass er in seiner Bescheidenheit und Demut ein reicher Mann ist, erfüllt von Dankbarkeit und Glaube und dass sich wahrer Reichtum zuweilen erst auf den zweiten Blick zeigt.
März 19
Wintersaat

Kalt, die Sonne eine matte Scheibe
Die Tage kurz, die Nächte dunkel
Kahle Bäume, stille Wälder
Alles ruht, alles schläft.
Doch tief unter Schnee und Eis
Unbemerkt im Schoss der Erde
Spriesst der Same, wächst das Korn
Strebt himmelwärts, dem Licht entgegen.
In des Winters Kälte wächst die Saat
Trotzt Frost und Wind und Sturm
Zeigt zaghaft erstes Grün
Lässt uns hoffen, nährt den Glauben:
Das Wunder Leben findet immer statt.
Januar 19